Augsburg
Würzburg
Augsburg, Bahnhofstraße 5
White Plains, New York/USA
Chicago/USA
März 1933:
Gestapohaft („Schutzhaft“) im Katzenstadel Augsburg
November 1938:
Konzentrationslager Dachau
Dr. Julius Nördlinger ist in Augsburg geboren und aufgewachsen. Sein Vater Eduard betrieb eine Zigarrenherstellung in der Maximilianstraße 81. Er stammte aus Pflaumloch im Ries, seine Frau Betty aus Ichenhausen.
Julius besuchte die Volksschule und das Gymnasium bei St. Anna. Ab 1909 studierte er Medizin in Würzburg. Gleichzeitig trat er als Freiwilliger einem Feldarztregiment bei, dem er bis zum Kriegsende angehörte. 1915 wurde er zum Doktor der Medizin promoviert. Nach dem Ausscheiden aus dem Militärdienst ließ er sich am Augsburger Hauptkrankenhaus zum Facharzt für Innere Medizin ausbilden. 1920 eröffnete er in der Bahnhofstraße 5 eine eigene Praxis.
Der junge Arzt engagierte sich politisch, er trat der SPD bei und unterstützte die Augsburger Kolonne des Reichsbanners Schwarz Rot Gold als Mannschaftsarzt.
Das Reichsbanner war eine Gründung der demokratischen Parteien, SPD, Zentrum und DDP zum Schutz der Republik vor Staatsstreichen, aber auch ihrer Veranstaltungen und republikanischen Feiern. Etwa 90% der über eine Million Reichsbannermitglieder gehörten der SPD an.
Als Jude und Sozialdemokrat, der sich in besonderer Weise für die Republik einsetzte, war Nördlinger sofort im Visier der Nazis. Im März 1933 kam er mit vielen anderen Gegnern der Diktatur im Gefängnis am Katzenstadel in sog. Schutzhaft, was nichts anderes war als Haft ohne richterliche Anordnung. Voller Häme berichtete die „Augsburger Nationalzeitung“ über den „Wallfahrtsort der Linken im Katzenstadel“ und veröffentlichte eine lange Liste mit den Namen der Gefangenen: „Dr. Ackermann, Bürgermeister, Dr. Nördlinger, Kolonnenarzt des Reichsbanners, Lehrer Zwack, SPD... Nun können die Stadtratssitzungen der SPD im Katzenstadel abgehalten werden. Das nennt man Staatsvereinfachung.“
Nach seiner Entlassung durfte Dr. Nördlinger als Kriegsteilnehmer vorerst zwar weiter praktizieren, aber er stand auf der Liste, mit der öffentlich zum Boykott seiner Praxis aufgerufen wurde. Noch 1934 konnte er dem untergetauchten Reichstagsabgeordneten Josef Felder (siehe: Gedenkbuch Josef Felder, Überlebende) in seinem Münchner Versteck über eine Deckadresse Geld zukommen lassen. 1938 wurde dem Arzt die Approbation entzogen und damit seine Existenz vernichtet.

Die Universität Würzburg erklärte später seine Promotion wie die aller jüdischen Promovierten für ungültig. Erst 2011 wurde dieses Unrecht zurück genommen. Im Zug des Novemberpogroms wurde Nördlinger wie die meisten erwachsenen männlichen Juden Augsburgs ins Konzentrationslager Dachau verbracht. Nach seiner Entlassung sah er keine Zukunft mehr und wollte Deutschland verlassen. Das gelang ihm im März 1939 zusammen mit seiner Frau Else. Über die Schweiz erreichten sie die USA. Mit anderweitigen Arbeiten hielt er sich im Staat New York und dann Chicago über Wasser, bis er 1940 die amerikanische Staatsbürgerschaft bekam und 1942 endlich wieder als Arzt praktizieren durfte. In mehreren Briefen berichtete er dem ebenfalls in die USA emigrierten ehemaligen Augsburger Rabbiner Dr. Ernst Jacob davon.
Schon 1946 starb Dr. Nördlinger, einen Tag nach seinem 56. Geburtstag, an einem Herzinfarkt. Er ist das Beispiel eines wegen seiner jüdischen Abstammung verfolgten Patrioten und Demokraten.
Die Biografie stützt sich auf die Forschungsergebnisse von Michael Spotka in: "Benigna Schönhagen und Michael Spotka, Augsburgs jüdische Ärzte im Nationalsozialismus. Ein Stadtrundgang, Augsburg 2016" und von Elisabeth Friedrichs.
Alfred Hausmann
2018
Aufbau - Reconstruction, Nr. 5 (01.02.1946).
Lutz Neumann, „Dr. med. Hermann Lemmle. Jüdische Ärzte und ihr Schicksal – ein Stadtrundgang“, in: Jüdische Allgemeine, 10.3.2011 (https://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/9886)
Elisabeth Friedrichs: Unveröffentlichte Aufzeichnungen zu jüdischen Ärzten in Augsburg im Nationalsozialismus, 1988.
Gernot Römer (Hg.), „An meine Gemeinde in der Zerstreuung.“ Die Rundbriefe des Augsburger Rabbiners Ernst Jacob 1941–1949 (Material zur Geschichte des Bayerischen Schwaben, Bd. 29), Augsburg 2007.
Michael Spotka, Dr. Julius Nördlinger, in: Benigna Schönhagen (Hg.): Augsburgs jüdische Ärzte im Nationalsozialismus. Ein Stadtrundgang, Augsburg 2016, S. 18-21.
Universität Würzburg (Hg.), Die geraubte Würde. Die Aberkennung des Doktorgrads an der Universität Würzburg 1933-1945. Würzburg 2011, S. 191.