Jüdinnen und Juden

Die zahlenmäßig weitaus größte Gruppe unter den Opfern des NS-Gewaltregimes bilden die etwa sechs Millionen ermordeten europäische Juden.

Biologistische Vorstellungen hatten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine seit Jahrhunderten bestehende, religiös begründete Judenfeindschaft in einen modernen, rassistisch begründeten Antisemitismus verwandelt, der tief in die Gesellschaft eindrang, und die Gleichstellung der Juden rückgängig machen wollte. Mit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933 machten diese den Antisemitismus zu ihrer Staatsideologie, die sie mit Terror und Gesetzen durchsetzten. Zur schon lange diskutierten „Lösung der Judenfrage“ wollten die Nationalsozialisten anfangs alle Juden aus Deutschland und Europa vertreiben. Mit dem Überfall auf Polen im September 1939 begannen die Massenerschießungen von Juden, die dann mit dem Krieg gegen die Sowjetunion seit Juni 1941 in einen industriell organisierten Massenmord an den europäischen Juden übergingen. Für den staatlich betriebenen Völkermord an den Juden, die Schoa, wurde „Auschwitz“ zum Inbegriff. In Auschwitz sind an die 1,1 Millionen Menschen vergast und erschlagen worden oder sie starben an den katastrophalen Bedingungen oder den Folgen medizinsicher Versuche. Die meisten waren Juden. Unter diesen waren schätzungsweise 128.000 Juden aus Deutschland und Österreich.

Deutsche und ihre Helfer führten die Vernichtung überwiegend in den besetzten Gebieten im Osten durch. Doch der Weg dahin begann auch in Augsburg mit der Stigmatisierung, Ausgrenzung und Beraubung der Juden. Nachdem der NS-Staat die demokratischen Grundrechte abgeschafft und seine politischen Gegner ausgeschaltet hatte, begann er noch im Frühjahr 1933 mit der Entrechtung der Juden. Das am 4. April 1933 erlassene „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ schloss sie, mit Ausnahme der Weltkriegsteilnehmer und deren Kinder, aus dem öffentlichen Dienst aus, das „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ beschränkte ihre Bildungsmöglichkeiten. Wirtschaftsverbände, Sportvereine und kulturelle Institutionen schlossen – häufig in vorauseilendem Gehorsam – Juden ebenfalls aus ihren Reihen aus. Die 1935 auf dem Reichsparteitag in Nürnberg verabschiedeten „Rassegesetze“ entzogen Juden schließlich ihre Staatsbürgerechte und degradierten sie zu Bürgern zweiter Klasse. Zudem legten sie fest, wer als Jude zu gelten hatte. Die folgenden Durchführungsverordnungen führten die Kategorien von „Mischlingen“, sogenannte „Halb- und Vierteljuden“ ein, die zwei oder einen jüdischen Großeltern hatten. Schlagartig wurden damit Tausende zu Juden erklärt, die keinen Bezug mehr zu einer jüdischen Gemeinde hatten oder getauft waren.

Auf die gesellschaftliche Ausgrenzung folgte die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft. Viele jüdische Augsburger wurden gezwungen, ihr Geschäfte und Unternehmen zu verkaufen, in der Regel weit unter ihrem Wert. Doch trotz des Verlusts der Existenzgrundlage entschlossen sich lange Zeit nur wenige Juden, ihre Heimat zu verlassen, oder fanden keine Aufnahme in einem anderen Land. In Augsburg, wo beim Machtantritt der Nationalsozialisten 1.033 Juden gemeldet waren, hatten bis 1937 erst 200 Juden Deutschland verlassen. Gleichzeitig waren vermehrt Juden aus den Landgemeinden in den Schutz der anonymeren Großstadt gezogen. Verschärfte Verfolgungsmaßnahmen in den Jahren 1937 und 1938 sollten die Emigration vorantreiben. Mit dem Pogrom vom November 1938 erzwang der NS-Staat schließlich eine massenhafte Flucht. Wer als sog. „Aktionshäftlinge“ während des Pogroms in Dachau inhaftiert wurde, kam erst frei, wenn er seine Auswanderungspapiere vorlegen konnte; zwei Augsburger Juden sind an den Folgen dieser Haft gestorben. Allein innerhalb der nächsten drei Monate verließen 89 Augsburger Juden und Jüdinnen die Stadt. Bis der NS-Staat im Oktober 1941 Juden die Auswanderung komplett verbot, hatten sich insgesamt etwa 600 Augsburger Juden ins – nicht immer – rettende Ausland flüchten können.

Für die in Augsburg Gebliebenen – meist waren es die Älteren und Kranken – schränkte eine Fülle von neuen Vorschriften und Vorboten die Lebensmöglichkeiten aufs Äußerste ein. Jede Missachtung der zahlreichen Vorschriften konnte drakonische Strafen nach sich ziehen. Aufgrund des „Gesetzes über Mietverhältnisse mit Juden“ vom 30. April 1939 verloren viele ihre vertrauten Wohnungen. Sie wurden in sog. „Judenhäusern“ ghettoisiert, in ein Barackenlager in der Geisbergstraße 14 (heute Reichenbachstraße) eingewiesen oder zogen bei Verwandten ein. Der Besuch von öffentlichen Veranstaltungen und Einrichtungen war ihnen verboten, ebenso der Aufenthalt in der Öffentlichkeit nach acht Uhr abends, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen untersagt. Wenn sie nicht das Glück hatten, dass mutige nichtjüdische Freunde sie heimlich noch besuchten, waren sie nun völlig isoliert.

Seit dem Winter 1939/40 mussten sie wie alle Juden in Deutschland Zwangsarbeit leisten.
Am 20. November 1941 ging der erste Transport mit Augsburger Juden, die aus dem Vorort Kriegshaber eingeschlossen, nach Litauen ab. Ziel war Riga, aber weil das dortige Ghetto überbelegt war, leiteten die NS-Behörden den Transport nach Kaunas/Kowno um. Niemand von den 20 aus Augsburg Deportierten kehrte von dort zurück. Acht weitere Deportationen verschleppten Juden aus Augsburg in den Osten. Nach dem heutigen Kenntnisstand ging am April 1942 ein Zug mit 129 jüdischen Augsburgerinnen und Augsburgern in das Durchgangsghetto Piaski im heutigen Polen, zwischen dem 31. Juli und dem 12. August kamen 51 in das angebliche „Vorzugsghetto“ Theresienstadt, weitere drei am 20. April 1943 und 46 am 13. Januar 1944 und 20. Februar 1945. Am 13. März 1943 führte ein Zug 91 Augsburgerinnen und Augsburger nach Auschwitz. Die genaue Zahl der Opfer ließ sich bisher nicht feststellen; sie differiert, je nachdem, ob man Augsburg als Geburts- oder Wohnort zugrunde legt. Fündundzwanzig Überlebende kehrten nach Kriegsende nach Augsburg zurück.

Benigna Schönhagen