Gersthofen, Heimstättenweg 3
Augsburg (Sterilisation)
München, Strafanstalt Stadelheim
Heil-und Pflegeanstalt Kaufbeuren
Tötungsanstalt Hartheim bei Linz
"Aktion T4"
Die erzählte Geschichte erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, im Gegenteil. Die Geschichte ist infolge von Kriegsverlusten in den Archiven und in Ermangelung mündlicher Quellen lückenhaft. Kenntnisse über das Opfer haben wir ausschließlich aus der Perspektive der nationalsozialistischen Machthaber, also derjenigen, die Johann Mayer und seiner Familie die Lebensperspektive von Anfang an erschweren, seine Lebensberechtigung infrage stellen, schwere Eingriffe in den persönlichsten Bereich vornehmen, schließlich die physische Existenz von Johann Mayer vernichten.1 Wir haben keine Kenntnisse über seine Ziele, Vorlieben und Sehnsüchte, seine Empfindungen und Ängste.
Ziel der Kurzvita ist es, die Erinnerung an ein Opfer des Nationalsozialismus wach zu halten.
Johann ist das uneheliche Kind des Bademeisters Franz Klenner, geb. am 23.4.1896 in Obergessertshausen, und Maria Mayer, geb. am 14.7.1895 in Augsburg.
Maria Mayer heiratet am 11.02.1923 in Gersthofen Jakob Schaller, geb. am 14.07.1883 in Gersthofen. Beide wohnen, gemeinsam mit dem Sohn der Maria, in der Langemarckstraße 4 in Gersthofen. Johann besucht vor Ort die Volksschule. Er ist kein guter Schüler, seine Zeugnisse weisen auf eine gewisse Lernschwäche hin, Sport ist sein bestes Fach. Heute würde man vielleicht sagen, dass er verhaltensauffällig und konzentrationsschwach ist. Zwei Klassen muss er wiederholen.

Mit 14 Jahren beginnt er eine Arbeit in der Ziegelei in Gersthofen, danach ist er 4 Jahre lang in einem Sägewerk in Gersthofen als Hilfsarbeiter tätig. Ein Photo vom 19. August 1933, welches uns die Familie zur Verfügung gestellt hat, zeigt ihn beim Gebietstreffen der Hitlerjugend in München.2 Als sein Pflegevater Jakob Schaller im Mai 1937 verstirbt, scheint ihm die strenge fürsorgliche Hand abhandengekommen zu sein.
Er ist gerade mal 19 Jahre, als er unsittlicher Handlungen bezichtigt wird. Ein Verfahren gegen ihn wird aber nicht eingeleitet, weil er für das ihm zur Last gelegte Delikt nicht belangt werden könne.3
Aber der Bürgermeister der Gemeinde Gersthofen, Hans Geißer, meldet den Vorfall am 19. Januar 1938 unverzüglich dem Staatlichen Gesundheitsamt Augsburg Land in der Frölichstraße.4
„Der nebenbezeichnete Johann Mayer, genannt Schaller ist ein ... belasteter Bursche. Da er, wie beobachtet wurde, sittlich nicht ganz einwandfrei ist, halte ich es für geboten, denselben einer amtsärztlichen Untersuchung zuzuführen, mit dem Ziele, die Frage einer etwaigen Entmannung zu prüfen. Gez. Geißer, Bürgermeister“
Das „sittlich nicht ganz einwandfreie“ Verhalten wurde durch keinen konkreten Sachverhalt belegt, aber das Gesundheitsamt leitet infolge der Meldung sofort ein Verfahren gegen Johann Mayer, genannt Schaller ein.5
Bereits am 2.4.1938 ordnet das Gesundheitsamt Augsburg-Land eine amtsärztliche Untersuchung von Johann an und fordert seinen Vormund Johannes Vasold, den Schwager der Mutter, auf, „dafür Sorge zu tragen, dass der ledige Hilfsarbeiter Johann Mayer, geb. am 8.Oktober 19 zu Gersthofen, dessen Vormund sie sind, zum Zwecke einer amtsärztlichen Untersuchung im Staatlichen Gesundheitsamt Augsburg-Land, Frölichstraße 10 ½ kommt, u.z. am Freitag den 8.4.1938 nachmittags um 3 Uhr.“
Die Hilfsärztin beim Gesundheitsamt Augsburg-Land, Dr. Meßner, kommt in ihrem Gutachten zur folgenden Diagnose:
„Angeborener Schwachsinn. Sittlichkeitsvergehen, wegen § 51/I Verfahren eingestellt. Schwere Urteilsstörung. ... Beruflich so wenig fähig, dass er nur zu ganz einfachen Tätigkeiten gebraucht werden kann. ... Hohe Gefahr der Fortpflanzung.“ Dr. Meßner, Hilfsärztin.6
Man muss das Gutachten als Gefälligkeitsgutachten zugunsten der NSDAP bezeichnen. Bereits eine Woche später stellt der Bezirksarzt beim Gesundheitsgericht Augsburg-Land beim Erbgesundheitsgericht Augsburg den Antrag, Johann Mayer unfruchtbar zu machen. Zur Glaubhaftmachung bezieht sich Dr. Valentin Schmid, der Bezirksarzt im Gesundheitsamt Augsburg-Land auf das amtsärztliche Gutachten und auf die Akten der Staatsanwaltschaft Augsburg.7
Der Vormund von Johann Mayer, sein Onkel Johann Vasold, stimmt dem Antrag zur Unfruchtbarmachung des Johann wie folgt zu: „Bezugnehmend auf ihr Schreiben vom 22.4. 38 habe ich keine Einwendungen zu machen. Anfallende Kosten können aber nicht bestritten werden. Heil Hitler! Der Vormund Hans Vasold.“
Nun nehmen die Dinge ihren Lauf. Das Erbgesundheitsgericht am Amtsgericht fasst in einer nichtöffentlichen Sitzung am 24. Mai 1938 nach Beratung eines Dreiergremiums (Amtsgerichtsrat Hartmann als Vorsitzender, Bezirksrat Dr. Gloel als beamteter Arzt und Nervenarzt Dr. Willburger als weiterer Arzt) einstimmig den folgenden Beschluss:
Begründet wird die Entscheidung wie folgt:
„Johann Mayer hat als Kind sehr spät sprechen gelernt. In der Schule waren seine Leistungen mangelhaft, ... Auch in der Fortbildungsschule haben seine Leistungen den Anforderungen nicht entsprochen. Nach der Schulentlassung hat er zuerst in einer Ziegelei gearbeitet. Seit 4 Jahren ist er Hilfsarbeiter in einem Sägewerk in Gersthofen. Ein Strafverfahren ... wurde im Jahr 1938 eingestellt, da Mayer nach dem Gutachten des Landgerichtsarztes von Augsburg strafrechtlich nicht verantwortlich gemacht werden kann. (Akten der Staatsanwaltschaft Augsburg 7 Js 46/38). Erbkrankheiten in seiner Familie konnten nicht festgestellt werden. ... Bei der ärztlichen Intelligenzprüfung hat er zum großen Teil versagt. Er kann nicht lesen und nur sehr mangelhaft schreiben und rechnen. Sein Gedankenablauf ist verlangsamt, seine Urteilsfähigkeit stark eingeschränkt.“ 8
Die gleichen Feststellungen machte das Gericht bei der kurzen Intelligenzprüfung ... Auf Grund des gerichtsärztlichen Gutachtens im Strafverfahren ..., des Ergebnisses der Intelligenzprüfung und des persönlichen Eindrucks, den das Gericht im Termin vom 24.5.38 von Mayer gewann, ist das Gericht davon überzeugt, dass M. an Schwachsinn leidet. ... Nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft ist mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass eventuelle Nachkommen Mayers an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden.
Um erbkranken Nachwuchs zu verhüten, war deshalb gemäß § 1 Abs. II Ziff. 1 EGG anzuordnen, dass Mayer unfruchtbar zu machen ist. Die Kosten des gerichtlichen Verfahrens hat die Reichskasse zu tragen, § 13 EGG.“
Gez. Dr. Gloel, beamt. Arzt; gez. Hartmann, Vorsitzender gez. Willburger, weiterer Arzt.
Augsburg, den 15.6.38 beglaubigte Abschrift ans Staatliche Gesundheitsamt Augsburg-Land, 17.6.38, St. 218.
Nachdem der Vormund von Johann Mayer; Johannes Vasold, am 24.6. schriftlich auf eine Einlegung der Beschwerde gegen den Beschluss des Erbgesundheitsgerichts beim Amtsgericht Augsburg vom 24.5. verzichtet, wird Johann Mayer am 6.6.1938 ins Städtische Krankenhaus eingewiesen.9
Der ärztliche Bericht lautet lapidar:
„J.M. geb. 8.10.1919, Geb. ort Gersthofen, wohnhaft Gersthofen, Heimstättenweg 3 bei Vasold ist aufgrund der Entscheidung des Erbgerichts in Augsburg vom 15.6.38, AZ XIII 67/68 am 6. Juli 1938 von mir unfruchtbar gemacht worden. Art der Unfruchtbarmachung: Bei dem Eingriff wurden die Samenleiter in ca. 5 cm Länge beidseitig reseziert. (Inguinale Methode). Der Eingriff verlief regelgerecht. Die Wunde heilte in 6 Tagen. Der Operierte wurde am 15.7. 1938 als geheilt entlassen.“
Gez. Dr. Haacke, 17.7.193810
Der ganze Zynismus der infolge des „Gesetzes zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses“ vollzogenen Zwangssterilisierung wird in der Formulierung Dr. Haackes sichtbar, der konstatierte, der Patient sei „geheilt entlassen“ worden.11
Wir wissen, dass Johann unmittelbar nach seiner Zwangssterilisierung in die psychiatrische Abteilung des Strafgefängnisses München-Stadelheim eingeliefert wird. Dort ist er noch im Januar 1939 eingesperrt, und zwar ohne Gerichtsurteil.12
Am 12. Januar 1939 fordert die Staatsanwaltschaft Augsburg-Land die Akten über seine Zwangssterilisierung mit dem Stempel: Haft! Eilt sehr! vom Gesundheitsamt Augsburg-Land an. Wir müssen davon ausgehen, dass die Staatsanwaltschaft damit seine Verlegung in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren angeordnet hat. Leider sind die Akten der Staatsanwaltschaft am Landgericht Augsburg durch Kriegseinwirkung fast vollständig verloren gegangen, sodass auch die Vorverfahrensakte der Staatsanwaltschaft 7 Js46/1938, Johann Mayer betreffend nicht mehr vorliegt.13
Fest steht jedenfalls, dass Johann am 14. März 1939 „zum Zweck der Sicherheitsverwahrung“ von München Stadelheim aus in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren eingeliefert wird.14
Über seinen Aufenthalt in Kaufbeuren wissen wir bis zum jetzigen Zeitpunkt nichts. Die Krankenakte Johann Mayers ist weder im Archiv der HPA Kaufbeuren und Irsee noch an seinem letzten Aufenthaltsort in Hartheim oder im Bundesarchiv in Berlin auffindbar.15
Eines aber wissen wir mit Gewissheit. Im Rahmen der Aktion T416
werden am 4. Juni 1941 70 Männer17
, am 5.6.1941 71 Frauen, am 8. August nochmals 133 Frauen von Kaufbeuren nach Hartheim bei Linz verbracht. Zuvor waren von August 1940 bis Dezember 1940 die Todestransporte mit den grauen Bussen nach Grafeneck erfolgt. Laut Zu- und Abgangsbüchern wurden insgesamt 688 PatientInnen aus Irsee durch die T4 Aktion ermordet.
Johann befand sich unter den 70 Männern, die am 4. Juni nach Hartheim „verlegt“ werden, wie das Dokumentationszentrum Hartheim auf meine Anfrage bestätigte. Ob der Transport nach Hartheim über die Zwischenanstalt Niedernhart bei Linz (heute Neuromed Campus) geführt wurde, können wir nicht mit Bestimmtheit feststellen.18
Niedernhart und Hartheim standen unter der Leitung von Dr. Rudolf Lonauer.
Aller Wahrscheinlichkeit wird Johann Mayer gemeinsam mit den 69 weiteren Patienten aus Kaufbeuren noch am gleichen Tag in der Tötungsanstalt Hartheim durch Gas ermordet. Zum Zeitpunkt seiner Ermordung ist Johann noch keine 22 Jahre alt.19
Auf Anfrage der Mutter und des Onkels erteilt die Staatsanwaltschaft am Landgericht Augsburg den beiden am 11. Juni die folgende Auskunft:
„Im Rahmen planwirtschaftlicher Maßnahmen wurde der in hiesiger Anstalt sicherungsverwahrt gewesene Johann Mayer aus Gersthofen, für den von dort Zahlungen geleistet wurden, aus der hiesigen Anstalt in eine andere Anstalt verlegt. Weitere Zahlungen über den Tag der Verlegung hinaus sind solange einzustellen, bis sie von der Aufnahmeanstalt aufgefordert werden.“20
Wenig später muss ihnen der Tod von Johann mitgeteilt worden sein, denn sie erfragen am 12. Juli 1941 bei der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren, ob ihnen seine Hinterlassenschaft zugesandt werde oder diese selbst abzuholen sei.21 Der Mutter wird die Asche ihres Sohnes zugestellt. Die sterblichen Überreste von Johann Schaller wurden auf dem katholischen Friedhof in Gersthofen beigesetzt.22
© Biografie erstellt von: Dr. Bernhard Lehmann, 86368 Gersthofen, Haydnstraße 53 Gegen Vergessen - Für Demokratie, RAG Augsburg-Schwaben, e-mail: bernhard.lehmann@gmx.de
2017, ergänzt 2021
Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren Historisches Archiv (BKH Kaufbeuren Hist. Arch)
Akte Korrespondenz mit Angehörigen, 12.7.1941 und 11.6.1941
Dokumentationsstelle Hartheim, Schlossstraße 1, A-4072 Alkoven
Auskunft Peter Eigelsberger vom 2.8.2016 und vom 23.8.2016
Staatsarchiv Augsburg (StAA)
5051.6-998/1/2, Akten des Erbgesundheitsgerichts Augsburg beim Amtsgericht Augsburg, AZ XIII 67, 1938
https://www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/voelkermord/euthanasie.html
http://www.documentarchiv.de/ns/erbk-nws.html
https://www.dgppn.de/dgppn/geschichte/nationalsozialismus/kinderfachabteilungen.html; http://www.wider-des-vergessens.org/index.php?option=com_content&view=article&id=226%3Aeuthanasie-definition-im-wandel-der-zeit&catid=17%3Aeuthanasie&limitstart=