Josepha S.

Geboren:
17.11.1884, Augsburg
Gestorben:
27.07.1944, Kaufbeuren-Irsee

Letzter freiwilliger Wohnort

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Biografie

Biografie Josepha S.

Wir haben nur unzuverlässige Informationen über sie. Die verfügbaren Dokumente aus der Heil- und Pflege-anstalt Kaufbeuren, wie das Haus damals hieß, wurden in einer Zeit erstellt, als nur arbeitsfähigen Menschen das Recht auf Leben zugestanden wurde.
Da wir nicht wissen, ob ihre eventuellen Nachkommen einverstanden sind damit, dass ihre Geschichte erzählt wird, nenne ich sie Josefa S., geb. G.
Sie ist am 17. November 1884 in Augsburg geboren, katholisch, Näherin, verheiratet seit 1920. Ihr Mann war Schäfflermeister, er arbeitete im elterlichen Ge-schäft, das ihm nicht übergeben wurde. Er starb im November 1935. Ihr letzter freiwilliger Wohnort ist die Friedberger Straße 127.
Sie wird vom Krankenhaus Augsburg am 16.9.1936 nach Kaufbeuren überstellt und ein halbes Jahr später, am 6.2.1937, als „gebessert“ „auf Wunsch ihrer Angehörigen“ entlassen.
Wieder eingeliefert am 12.5.1937, gestorben am 27.7.1944 um 5 Uhr in Irsee, Todesursache „kat. Lungenentzündung (107)“, Leichenschauschein unterzeichnet von Dr. Gärtner.
Sie hinterlässt einen Sohn namens Friedrich, der den Angaben zufolge 1937 eine Schlosserlehre macht und in der Friedbergerstr. 127/I wohnt. Dort wohnt auch ihre Schwester Zenta.
Ihr Beruf wird mit Näherin angegeben, die Krankheit als „Spaltungsirresein“, bestehend seit 1912.
Die Patientin wurde während ihres ersten Aufenthalts in Kaufbeuren nicht unfruchtbar gemacht, da sie mit 51 Jahren „nicht mehr fortpflanzungsfähig“ sei. Sie wurde mit Insulin behandelt.
Nach Angaben der Schwester hatte sie 1912 nach dem Tod ihres damaligen Verlobten einen Suizidver-such gemacht, die Kugel steckte noch in der Lunge. Sie fand nach dem Tod des Mannes Arbeit als Näherin in einem großen Konfektionsgeschäft. Seit Beginn 1936 stärkere Beschwerden (Kropf), Ängste wegen vorgeschlagener Operation. In die Arbeit zurückgekehrt, konnte sie die geforderte Stückzahl nicht mehr schaffen und wurde entlassen. Das KH Augsburg, in das sie eingeliefert wurde, überwies sie in die HuPA Kf.

Behandlung in Kaufbeuren
Am 23.10.36 wurde ein Dauerschlaf mit Somnifen eingeleitet, der bis zum 3.11. dauerte.
Es wird in der Krankenakte mehrfach notiert, sie habe Halluzinationen, wie beispielsweise: dass sie ein Angebot vom Führer habe, sie müsse eine Rede halten, sie höre Stimmen.
5.12.36 Einleitung einer Insulinbehandlung, 4.12. Unterbrechung des Insulinschocks. Brustwickel, Solvochin, Sympatol-Injektion.
Nach ihrer Entlassung wohnt sie bei ihrer Schwester. Als sie aber unsinnige Einkäufe macht und Handwerker bestellt, die gar nicht gebraucht wurden, wird sie wieder ins Krankenhaus Augsburg eingeliefert und von dort nach Kaufbeuren überwiesen.
Sie verleitet dort angeblich am 16.5.37 eine andere Patientin „zu einem gemeinsamen, heimtückischen Angriff auf die Pflegerin“ und wird von Abt. E3 auf Abt. G3 verlegt. Sie bekommt dort eine Injektion von „Mo-Scop“ (Morphin-Scopolamin).
7.9.1938: „Hob heute wieder eine Mitkr. im Garten über die Mauer. Bekam 3 Std. nasse Einpackung.“
1940 [als die Krankenmorde an nicht Arbeitsfähigen beginnen] wird mehrfach notiert, dass sie „zur Arbeit nicht verwendet werden“ kann. Sie zerkratzt sich viel.
Verlegung nach Irsee
Am 2.9.1940 wird sie nach Irsee [= Pflegeanstalt, dort höhere Sterberate] verlegt.
Dort wird am 20.9.1940 notiert: „Brütet über Stunden im Stupor“. [Stupor = lat. Dummheit, Stumpfsinn]
1941: „Kaum zur Arbeit brauchbar“.
1942: „Wird mit Nähen beschäftigt, auch mit allerlei Hausarbeiten, dabei willig und brauchbar.“
18.5.1943: „Drangvolle Unruhe“. „Zerkratzt sich oft die Haut im Gesicht und am Körper“.
Juli 1944: „Liegt seit 2 Wochen zu Bett, schläft viel, stupurös“.
27.7.44: „Exitus. Sektion ergab in beiden Unterlappen Entzündung und Infiltration. Bemerkenswert: bei der Durchschneidung des linken Unterlappens war an der Oberfläche das gut eingenarbte Geschoss von dem Suicidversuch 1912. Todesurs.: Bronchopneumonie.“
Auf der Gewichtsliste ist für Juni 1944 „55 kg“ eingetragen.

Literatur zu den genannten Medikamenten:
Somnifen: Literaturangabe: M. Müller, Die Dauernar-kose mit Somnifen in der Psychiatrie. Ein Überblick, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Dez. 1925, Volume 96, Issue 1, pp 653-682.
Solvochin: Karl Nissen, Die Behandlung der Lungenentzündung mit Solvochin-Calcium, Thieme, 1935.
Sympatol: G. Kuschinsky, Untersuchungen über Sympatol, einen adrenalinähnlichen Körper, in: Naunyn-Schmiedebergs Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmakologie, 1930, Volume 156, Issue 1, pp 290-308
Morphin-Scopolamin: Beruhigungsmittel.

Erstellt und gelesen von Dr. Michael Friedrichs
2013